In meinem Artikel zur komplexen posttraumatischen Belastungsstörung wies ich bereits darauf hin, dass die WHO seit längerem plante, einen differenzierenden Diagnoseschlüssel hierfür einzuführen. Dies ist im letzten Jahr endlich geschehen.
Laut Pressemitteilung vom 01.07.2022 der Universität Zürich hat ein internationales Team die genauen Symptome in einer Leitlinie zur klinischen Beurteilung und Behandlung dieser komplexen psychischen Erkrankung zusammengefasst.
PTBS und mehr
Die bekannteste Traumafolgestörung war bisher die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Diese psychische Störung ist unter anderem gekennzeichnet durch Flashbacks, die die Betroffenen häufig unvermittelt überwältigen. Medizinern und Therapeuten ist jedoch lange klar, dass einige Traumabetroffene oder -überlebende ein vielschichtigeres Muster an psychischen Veränderungen aufweisen. (Besonders bei Erlebnissen, die länger andauern oder sich wiederholen – etwa bei Kriegseinwirkungen, sexualisierter Gewalt, anhaltender psychischer und physischer Gewalt in der Kindheit oder im Erwachsenenalter, Vernachlässigung oder bei Folterungen.)
Weltweite Befragungen von Psychiatern und Psychologen zeigten die Notwendigkeit einer komplexeren Beurteilung dieser psychischen Störung. Die systematische Sichtung der vorhandenen Forschung sowie neue Untersuchungsergebnisse führten dann zur neuen Diagnose „komplexe posttraumatische Belastungsstörung“ .
erweitertes Modell
Die WHO hat im letzten Jahr die neue, international gültige Krankheitsklassifikation ICD-11* als Referenzsystem herausgegeben. Seit Januar 2022 gibt es darin die neue Diagnose KPTBS unter der Kodierung 6B41.
Die bisherigen PTBS-Symptome wie Flashbacks, Angstträume, Vermeidungsstrategien, Teilnahmslosigkeit und ein ständiges Bedrohungsgefühl wurden erweitert – zum Beispiel um das Merkmal der „beeinträchtigten Selbst-Organisation“. Wichtige Anzeichen dafür sind überaktive oder gehemmte Gefühlsreaktionen, das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit sowie Schwierigkeiten, Beziehungen aufrechtzuerhalten oder sich anderen nahe zu fühlen.
Ein internationales Team mit Beteiligung der Universität Zürich hat im Detail beschrieben, wie eine Diagnose anhand der Symptome von Betroffenen zu stellen ist. Die Studie, die im “The Lancet” leider nur nach Bezahlung nachzulesen ist, beschreibt, welche Schwierigkeiten dabei auftreten, welche Besonderheiten bei Kindern und Jugendlichen bestehen und welche diagnostischen Unterscheidungen zu machen sind zu ähnlichen psychischen Erkrankungen (schwere Depression, bipolare Störungen, Psychosen oder Persönlichkeitsstörungen).
Diagnose und Therapie
Erstautor Andreas Maercker, Professor für Psychopathologie und klinische Intervention an der Universität Zürich, erklärt: „Wir arbeiten heraus, wie im Routinebetrieb beispielsweise in medizinischen Notfalleinrichtungen und in Weltregionen mit weniger ausgebauten Gesundheitssystemen die Diagnose gestellt werden kann“.
Die Studie umfasst den neuesten Kenntnisstand zu den bio-psycho-sozialen Wirkungszusammenhängen nach systematischen Auswahlkriterien. Zudem wird die Evidenzbasis aller verfügbaren Therapiestudien analysiert und daraus Leitlinien für die Behandlung von komplexen posttraumatischen Belastungsstörungen abgeleitet.
(Quelle: https://idw-online.de/de/news797665)
Hoffnung
Es bleibt zu hoffen, dass die Bemühungen der Experten bald flächendeckend Einzug in die Praxen der Psychiater und Psychotherapeuten halten, so dass entsprechende Therapiemaßnahmen für möglichst viele Betroffene in erreichbare Nähe rücken.
*Info zur ICD-11:
Laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte wird die Einführung der ICD-11 in Deutschland zur Morbiditätskodierung aufgrund der hohen Integration der ICD im deutschen Gesundheitswesen und der damit verbundenen Komplexität noch mehrere Jahre in Anspruch nehmen. (Quelle: https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/_node.html)
Die Beschreibung der KPTBS (Code 6B41) in einer ersten Version einer deutschen Übersetzung der ICD-11 für Mortalitäts- und Morbiditätsstatistiken (MMS) findest du hier: https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html